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Nachruf von Max Albrecht, Günter Köck und Harald Pauli

Georg Grabherr, Ehrenvorsitzender des MAB-Nationalkomitees, ist am 25. Oktober 2022 im Alter von 76 Jahren viel zu früh von uns gegangen.

Georg hinterlässt als Mensch und Wissenschaftler eine unglaublich große Lücke. Sein Leben als Familienvater, als Freund, Mentor und Kollege, sein Wirken als Wissenschaftler war so vielfältig und reichhaltig, dass man es hier nur unzureichend beschreiben kann.

Georg Grabherr wurde am 30. April 1946 in Bregenz geboren und ist in Hörbranz aufgewachsen. Gleich nach dem täglichen Unterricht legte Georg die Schultasche ab und begab sich auf Entdeckungsreise in die Hörbranzer Wildnis. Das Interesse für die Natur wurde von seinen Eltern von Beginn an sehr unterstützt. Nach der Hauptschule besuchte er die Lehrerbildungsanstalt in Feldkirch, war doch sein ursprünglicher Berufswunsch Lehrer. Im Internat nutzte er sein ausgeprägtes Interesse für die Natur, um beim Botanisieren in Wald und Flur dem Nachmittagsstudium zu entgehen. „Botanisieren statt Studieren“ war damals sein Lebensmotto.

Von 1967 bis 1975 studierte Georg Botanik in Innsbruck. Bereits hier zeigte sich der zentrale Punkt seines wissenschaftlichen Interesses: nämlich die Floristik, die er bereits in seiner Studienzeit leidenschaftlich betrieb.  Schließlich waren, seiner Aussage nach, ja „die Arten die Vokabeln der Natur“. Artenkenntnis lernt man am besten auf Exkursionen. Diese Art zu Lernen betrieb Georg geradezu exzessiv: waren damals im Studium nur acht Exkursionsstunden vorgeschrieben, nahm Georg hingegen an fast 200 Exkursionsstunden teil.

Die Doktorarbeit verfasste Georg dann allerdings nicht über ein floristisch pflanzensoziologisches, sondern über ein physiologisches Thema („Beiträge zur Ökophysiologie von Loiseleuria procumbens“). Damit hatte der junge Wissenschaftler ein Koordinatenkreuz über „seine“ Pflanzenwelt aufgespannt. Die vertikale Koordinate war die allgemeine Botanik mit Physiologie oder Genetik. Allgemein deshalb, weil sie auf der ganzen Welt nach demselben Prinzip funktionieren. Die horizontale Koordinate war die Floristik. Jede Erdgegend hat ihre eigene Flora und ihren eigenen Pflanzenbestand. Georg füllte beide Koordinaten aus, und dieses Koordinatensystem bildete wohl die Grundlage und das Fundament, von dem aus Georg die Vegetationsökologie auf der ganzen Welt so sicher und auf so hohem Niveau betreiben konnte. Georg wurde zu einem wandelnden Lexikon, konnte 4.000 Pflanzenarten ad hoc benennen und hat über 10.000 Pflanzenarten bewusst wahrgenommen.

Georg erhielt gleich nach Abschluss seines Doktorats eine Assistenten-Stelle am Institut für Botanik der Universität Innsbruck. Nach einem Forschungsaufenthalt an der University of Wales in Bangor habilitierte er 1983 in Innsbruck mit dem Thema „Produktionsbiologie und touristische Belastbarkeit hochalpiner Rasenökosysteme“. Das Thema war übrigens ein Modul im Rahmen eines MAB-Forschungsprojekts und damit wohl Georgs erster intensiver wissenschaftlicher Kontakt mit dem MAB-Programm der UNESCO, mit dem er in seiner weiteren Karriere eng verbunden bleiben sollte.

In seine Zeit als Universitätsassistent an der Universität Innsbruck fällt vor Allem die Pionierarbeit zur Erforschung der Dynamik alpiner Ökosysteme. So wies Georg als Erster auf die Klonalität und damit das unglaublich hohe Alter von Krummseggen in den alpinen Urrasen hin. Er verstand es auf beispielgebende Weise, wissenschaftliche Synergien in der Vernetzung von Grundlagenforschung und praxisorientierter Problemforschung zu erzielen und hat in seiner Innsbrucker Zeit für die Tiroler Landesregierung immer wieder für schwierige Fälle Naturschutz-Expertisen verfasst. Dort begann auch die Auseinandersetzung mit dem praktischen Naturschutz.

So hat Georg mit dem Liechtensteiner/Schweizerischen Naturschutzexperten Mario Broggi das Vorarlberger Biotopinventar verfasst.  Dieses Werk war damals das erste vollständige Inventar eines gesamten Landes mit Gebirgscharakter. Auch im Bereich der angewandten Forschung – und die Erstellung eines Biotopinventars ist angewandte Forschung – war Georg nie Eklektizist und schon gar kein Kopist, nein, die genuine Geistigkeit war bei ihm immer am Werk. Georg war auch ein gründlicher Historiker und hat die Geschichte Vorarlbergs, soweit sie für die Landschaftsentstehung von Relevanz war, im Vorarlberger Landesarchiv eingehend studiert. Er hat beinahe die Hälfte der Landesfläche Vorarlbergs selbst kartiert und seine Inventare sind spannend geschrieben. Diese sind nicht nur bloße Auflistungen von Lebensraumtypen und Arten, sondern sind eigene neue regionale Naturkunden, wodurch die Kenntnis über die Landesnatur insgesamt enorm gestiegen ist.

Im Jahr 1986 folgten dann gleich zwei Berufungen: Georg hat sich gegen die Universität Hannover und für die Universität Wien als Professor für Vegetationsökologie und Naturschutzforschung entschieden. Schwerpunkte seiner Forschung in Wien waren die Hochgebirgsökologie und der Naturschutz, beides mit stark internationaler Verankerung. Georg hat zahlreiche nationale und internationale Forschungsprojekte geleitet, in denen sehr oft sein Leitthema, nämlich der Wandel in der Natur und der Einfluss des Menschen darauf, die Hauptrolle spielte. Zu den international wegweisenden Arbeiten zählen die Ermittlung der Hemerobie der österreichischen Wälder, also der Zustand der Wälder hinsichtlich ihrer Naturnähe und die monographische Darstellung der Pflanzengesellschaften Österreichs. Die Pflanzengesellschaften Österreichs sind die Ernte mehrerer Forschergenerationen und der vorläufige Höhepunkt einer langen Tradition, die Vegetation zu sichten, zu differenzieren und zu beschreiben. Ziel war es, sämtliche bislang aus Österreich bekannt gewordenen Syntaxa aufzulisten und zu beschreiben und die noch offenen Fragen abzuleiten. Unter Georgs Leitung ist die erste umfassende Zusammenschau des gegenwärtigen Wissensstandes über die Pflanzengesellschaften Österreichs entstanden.

Georg Grabherr hat in der Lehre auch die Vegetation der ganzen Erde vertreten.  Die Vielfalt der Natur der Erde sprengt das menschliche Vorstellungs- und auch das Darstellungsvermögen. Es ist unmöglich, zumindest im Überblick die Vielzahl an Arten im Einzelnen zu beachten. Das Ökosystem ist aber eine Einheit, welche die Beschreibung der Lebewelt vereinfacht ermöglicht. Die Ökosysteme zusammengefasst als Ökosystemkomplexe bis hin zu Großlebensräumen erlauben in synoptischer Form, die Lebewelt der Erde hierarchisch gegliedert zu fassen. Und genau das hat Georg mit seinem im Jahr 1997 erschienenen Buch über die Ökosysteme der Erde mit 400 selbst fotografierten Bildern aus der ganzen Welt gemacht!

Eines seiner herausragendsten Projekte ist das zukunftsweisende Projekt und Monitoring-Netzwerk GLORIA („Global Observation Research Initiative in Alpine Environments“), das sich mit dem Klimawandel im Hochgebirge befasst. Seine Hypothese war, dass es durch die Klimaerwärmung zu einem Höhersteigen der alpinen Vegetation gekommen ist. Was fehlte, waren nachvollziehbare Beweise durch systematische Langzeitstudien und Messreihen. Diese Methodik baute Georg mit Studenten seines Wiener Instituts auf. Gemeinsam mit seinem Team entwickelte er eine ausgefeilte Methodik zur Einrichtung alpiner Dauerbeobachtungsflächen, die der einschlägigen Wissenschaftsgemeinschaft der Welt präsentiert wurde, um bei GLORIA mitzumachen. Und das internationale Echo war riesengroß, nicht zuletzt, weil Georg ein international bekannter und geschätzter Gebirgsökologe war. So ist das größte globale Monitoring-Programm für die Biodiversität der Hochgebirgsvegetation im Kontext der Klimafolgenabschätzung entstanden. GLORIA umfasst heute ein Beobachtungsnetz in über 130 Untersuchungsgebieten in Gebirgen in allen Klimazonen der Erde.  Das Team um Georg Grabher hat mehrfach Forschungsergebnisse aus dem GLORIA-Langzeitprojekt in den renommierten Fachzeitschriften Nature und Science publiziert.

Ein weiteres von Georg und seinem Team geleitetes internationales Wissenschaftsprojekt, das UNESCO-Projekt „Global Change in Mountain Regions (GLOCHAMORE)“, das die Entwicklung und Umsetzung einer Strategie zur Erkennung von globalen Umweltveränderungen in Gebirgsregionen über ein Netzwerk von Beobachtungsstandorten in ausgewählten Biosphärenparks zum Ziel hatte, hat ihm einen legendären Ruf im MAB-Programm eingebracht, der bis heute anhält.

Nach dem alten Universitätsideal stellen Forschung und Lehre eine Einheit dar. Bei keinem anderen Wissenschaftler traf dies so genau zu wie bei Georg Grabherr. Georg war ein hervorragender Didakt und ein hochgradig kommunikativer Mensch. Er war nie ein Kind von Traurigkeit und konnte brillant erzählen. Seine auf Exkursionen und bei anderen Gelegenheiten erzählten „Gschichtln“ waren legendär und trugen nicht nur zur guten Stimmung bei, sondern führten auch dazu, sich auch das trockenste Wissen leichter zu merken. Die Exkursionen, die er auf der ganzen Welt machte, waren bei den Studenten die mit großem Abstand beliebtesten. Er konnte begeistern und er hat Hunderte von Studenten begeistert und schließlich über 300 Diplomanden und Dissertanten in gute Berufe gebracht. Kein anderer hat in Österreich das Studium der Naturschutzbiologie so professionalisiert und auf den gesellschaftlichen Bedarf abgestimmt.

Für Georg gehörten nicht nur Forschung und Lehre, sondern auch Forschung und Wissensvermittlung für eine breite Öffentlichkeit zusammen. Er vermittelte sein Wissen über die Natur in vielfältiger Weise, wissenschaftlich korrekt und doch allgemein verständlich. Georg hat neben mehreren 100 Fachpublikationen auch eine Reihe von Fach- und auch populärwissenschaftlichen Büchern geschrieben.

Er hat auch immer die Verantwortung der Naturwissenschaft für die Gesellschaft betont. Dies zeigt sich auch in seiner lebenslangen Verbundenheit zum Vorarlberger Naturschutz. Als langjähriger Vorsitzender des Vorarlberger Naturschutzrates hat er die Naturschutzbelange seiner Heimat maßgeblich mitgestaltet. Seine Exkursionen mit den Mitgliedern der Vorarlberger Landesregierung in die Vorarlberger Natur hatten einen legendären Ruf. Als Anreiz zur Steigerung der Artenvielfalt auf Wiesen hat Georg die Vorarlberger Wiesenmeisterschaft ins Leben gerufen, die inzwischen in vielen Ländern nach dem Vorarlberger Vorbild durchgeführt wird. Die Geschicke des Biosphärenparks „Großes Walsertal“ lagen ihm immer besonders am Herzen!

Georg Grabherr war auch in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gut verankert. Seit 2004 war er korrespondierendes Mitglied der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 2003 wurde Georg Vorsitzender des MAB-Nationalkomitees. Die Zeit seines Vorsitzes war nicht nur durch einen Modernisierungsschub und verstärkte Internationalisierung des österreichischen MAB-Programms, sondern auch durch die erfolgreiche Einrichtung der beiden Biosphärenparks „Wienerwald“ und „Salzburger Lungau & Kärntner Nockberge“ gekennzeichnet. Nach seinem krankheitsbedingten Rückzug im Jahr 2014 wurde er zum Ehrenvorsitzenden des Nationalkomitees ernannt. Neben dem MAB-Nationalkomitee war Georg auch langjähriger Vorsitzender des Nationalkomitees „Global Change“. Von 2006 bis 2013 war er Vizedirektor des ÖAW-Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung.

Georg wurde für sein Lebenswerk vielfach geehrt. So etwa war er Österreichs Wissenschaftler des Jahres 2012. Im Jahr 2013 erhielt er neben dem Vorarlberger Wissenschaftspreis auch das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse. Im Jahr 2015 wurde Georg von der Universität Innsbruck mit dem Ehrendoktorat ausgezeichnet. Die für Georg nach eigener Aussage wertvollste Auszeichnung war aber das Ehrenzeichen des Vorarlberger Alpwirtschaftsvereins: ein Umstand, der Georgs nicht nur Bodenständigkeit, sondern auch seine lebenslange enge Verbindung zu seiner Heimat Vorarlberg zeigte.

Was Biodiversität sein kann, kann man im besten Fall nur erahnen. Georg zählte zu den ganz wenigen Menschen, die sie erfasst haben. Viele haben sich vielleicht gefragt, wie so ein Lebenswerk möglich ist? Naturliebe, großes Gedächtnis, Kommunikationsfähigkeit, Fleiß, Engagement, ja aber das allein erklärt es noch nicht. Das Buch „Ein Garten für das 21. Jahrhundert“, das nicht nur ein prächtiger Bildband über Georgs Garten in Königstetten, sondern auch ein Konzentrat von 30 Jahren Forschung und Lehre in Naturschutzbiologie ist, liefert vielleicht die Erklärung. Dort schrieb Georg den Satz „Mein Garten: Ich möchte in Blumen ertrinken“. Es ist wohl diese totale Hingabe an seinen Forschungsgegenstand, die Pflanzenwelt, die ihm sein Lebenswerk ermöglicht hat.

Seine fortschreitende Parkinson-Erkrankung zwang Georg leider, sich viel zu früh aus seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten zurückzuziehen.  Durch die Unterstützung seiner Frau Traudl konnte sich Georg aber bis fast zuletzt weiter in Naturschutzaktivitäten einbringen.

Am 25. Oktober 2022 ist Georg im Kreise seiner Familie in seinem Haus in Königstetten verstorben. Jenem Haus, das von seinem Garten für das 21. Jahrhunderts umgeben ist! Wir werden Georg als Wissenschaftler von Weltgeltung, herausragenden Lehrer und Wissensvermittler, leidenschaftlichen Naturschützer, Freund und Kollegen in liebevoller Erinnerung behalten.

 

 

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© Edition Lammerhuber (Buch "Ein Garten für das 21. Jahrhundert", 2012)

© Edition Lammerhuber (Buch "Ein Garten für das 21. Jahrhundert", 2012)

 

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© Edition Lammerhuber (Buch "Ein Garten für das 21. Jahrhundert", 2012)

       © G. Köck (Südafrika 2008)

 

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